Daniel Savage hat ein neues Leben begonnen: Er ist gerade zum Richter ernannt worden, er ist seiner Frau jetzt treu, und er baut ein nettes Haus mit Kamin am Stadtrand, das rechtzeitig zum zwanzigsten Hochzeitstag fertig sein wird. Aber sein jahrelanges Doppelleben lässt sich nicht einfach ausradieren.
„Doppelleben“ ist bereits der zehnte Roman des hierzulande bislang wenig beachteten Autors Tim Parks. Einige Wochen lang stand nun immerhin dieser Roman auf den deutschen Bestsellerlisten, dank Elke Heidenreichs Präsentation in ihrer ersten „Lesen!“-Sendung. Die Originalausgabe „Judge Savage“ erschien im März 2003, die deutsche Übersetzung folgte stante pede. Eine gute Übersetzung im Übrigen, die Michael Schulte besorgt hat.
Tim Parks, Jahrgang 1954, stammt aus Manchester und lebt seit 1981 in Italien, als Schriftsteller und Übersetzer. Die Problematik des Nicht-ganz-Dazugehörens hier und dort beherrscht viele seiner belletristischen Werke, zum Teil in der von ihm selbst erlebten Konstellation – ein Brite in Italien -, zum Teil verfremdet. „There is no life without a double life, and yet one grows weary” lautet der erste Satz in „Doppelleben”. Damit, so Tim Parks über seinen Roman, sei die Verbindung dieses Romans zu seinen vorherigen Werken ausgedrückt und gleichzeitig der Abstand zu ihnen („the departure“).
Very British
Tim Parks ist Brite, und sein Protagonist Richter Daniel Savage ist „very British“. Ein typischer angepasster Immigrant, der landestypischer als die Ureinwohner sein will, in diesem Fall britischer als die Briten. Daniels Frau Hilary stammt aus der britischen guten Gesellschaft, und sie ermahnt ihren Gatten ständig: „Sei doch nicht so langweilig!“, wenn der wieder einmal keinen Deut von den gesellschaftlich vorgegebenen Normen abweichen will.
Das Pikante an der Sache ist, dass Daniel nicht immer und überall so „langweilig“ ist. Jahrelang hatte er eine Affäre nach der anderen. Seine Frau kam erst im Fall Jane dahinter, Daniel zog aus und wurde schließlich durch die zeitweilige Trennung geläutert: Daniel und Hilary finden wieder zusammen, Daniel bleibt Hilary treu (und fühlt sich gut dabei), der Hausbau wird in Angriff genommen.
So der Stand der Dinge, der dem Leser zu Anfang des Romans präsentiert wird. Dann kommen die Dinge ins Rollen, denn die plötzlich per Beschluss heile Welt weigert sich, mitzuspielen und jetzt für immer heil zu sein. Daniel erhält einen Anruf von einer ehemaligen Geliebten, einer von ihrer Familie unterdrückten Koreanerin. Bei dem Versuch, sich mit ihr zu treffen, wird er lebensgefährlich zusammengeschlagen.
Schuhcreme im Gesicht
Daniels halbwüchsige Tochter Sarah weigert sich, das neue Haus auch nur anzusehen, boykottiert ihre Abiturprüfungen und sorgt für ernsthafte Probleme. Daniels alter Freund und Mentor, der Jurist Martin, erscheint nicht mehr zur Arbeit und beschäftigt sich ausschließlich mit dem Konsum von Seifenopern und dem Fotografieren von Motten. Daniels Bruder, das schwarze Schaf der Familie, meldet sich nach Jahren wieder und will Geld.
Dabei bräuchte Daniel eigentlich einen klaren Kopf. Er ist ein Richter, der im Licht der Öffentlichkeit steht. Seine Ernennung erfolgte nur zum Teil wegen seiner – durchaus vorhandenen – Verdienste, sondern auch wegen seiner Hautfarbe. Er ist der Quotenschwarze. Der äußerst britische Daniel ist das Adoptivkind eines britischen Colonels, seine leiblichen Eltern waren Brasilianer. „Sie haben den einzigen von uns genommen, der wirklich einer von uns ist, aber mit Schuhcreme im Gesicht“, kommentiert Freund Martin Daniels Ernennung.
Tim Parks’ Roman liest sich nicht einfach. Der Autor gehört zu denjenigen, die es nicht lieben, die wörtliche Rede kenntlich zu machen. Er gehört auch zu denjenigen, die das Talent haben, in etwa wiederzugeben, was passiert, wenn wir sprechen: Wir sprechen Worte aus, denken gleichzeitig an etwas, was uns ein anderer Gesprächspartner vor einer halben Stunde gesagt hat, weil uns die Tragweite der Worte von vorhin jetzt erst bewusst wird, reden weiter, nehmen außerdem Dinge in unserer Umgebung wahr und denken gleichzeitig daran, was wir nachher noch erledigen oder bedenken müssen.
Spiel des Lebens
Und da Daniel ein dienstbeflissener Richter ist, erleben wir ihn des Öfteren vor Gericht, was dem Autor Gelegenheit gibt, nicht nur Rede, Gegenrede, Reflexionen und Pläne zu vermischen, sondern als Kulisse noch den jeweiligen Prozess einzubauen: Anklage, Verteidigung, Geständnisse, Urteile. Alles vermischt sich wie die verschiedenen Stimmen in einem Orchester, die für den Nichtmusiker einfach nur viele unterschiedliche Stimmen sind und für den Musiker sich zu einem harmonisierenden Ganzen fügen. Und genauso laufen all diese verschiedenen Stimmen mit und in Daniel zusammen: Er ist der Richter, der dem Prozess vorsitzt, er ist der Familienvater, der Entscheidungen trifft, er ist der Freund, der versucht, Zugang zu Martin zu finden. Und doch ist er nur eines von vielen Rädchen.
Tim Parks gelingt es in „Doppelleben“, ein Stück Leben einzufangen, das Leben darzustellen. Das Leben in seiner gelegentlichen Fragwürdigkeit, den Wechsel von Empfindungen und Stimmungen, von Liebe, Hass und Gleichgültigkeit in ein und derselben Person ein und derselben Sache oder Person gegenüber. Tim Parks hat sich an die großen Fragen gewagt: die Frage von Identität, von Schuld und Recht im Gesellschaftlichen und im Privaten, von Vertrauen und Liebe und Verantwortung.
Das Besondere an diesem Roman ist, dass diese Fragen weder explizit gestellt noch beantwortet werden. Sie ergeben sich, sie drängen sich auf, sie sind da. Wie im wirklichen Leben, wenn man sich nicht gerade mit kugelsicherer Weste und Sonnenbrille durchs Leben schlängelt. Und wie im wirklichen Leben gibt es keine universellen Antworten. Es gibt manchmal auch keine Lösungen für Probleme, manche Probleme sitzt man jahrelang aus, lebt mit ihnen, integriert sie in den Alltag.
Das Besondere am Schluss von Tim Parks’ Roman ist, dass auch hier etliche Probleme nicht gelöst werden. Als gelernter Leser weiß man, dass man normalerweise 500 Seiten mitfiebern darf und dann präsentiert bekommt, wie es ausgeht: Happyend oder tragisches Ende oder die Ahnung einer Konfliktlösung in die eine oder andere Richtung. Bei Tim Parks fühlt man sich kurz betrogen, betrogen um eine der Illusionen von dicken Romanen. Am Ende von „Doppelleben“ ist nichts geregelt und nichts richtig offen, denn alle leben ihre Leben weiter.
All die gespannten Konfliktbögen sind am Ende immer noch angespannt und die offenen Fragen immer noch offen. Man ahnt zumindest, dass die meisten davon einfach unter den Tisch gekehrt werden und weiter schwelen. Und irgendwann hervorbrechen. Das wäre Stoff für eine Fortsetzung von „Doppelleben“. Doch Tim Parks hat wohl genug Format als Schriftsteller, um dieser Versuchung zu widerstehen.
Literaturangaben:
PARKS, TIM: Doppelleben. Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Michael Schulte. Verlag Antje Kunstmann, München 2003. 440 S., 24,90 €.
Zuerst veröffentlicht im Juni 2003 bei der Berliner Literaturkritik.
Mehr dazu im Netz:
– Link zur Rezension bei der Berliner Literaturkritik