Dass aber auch alle Leute, die nichts vom Kochen verstehen, stattdessen Kochbücher schreiben müssen! Mit diesem Stoßseufzer soll Tatjana Kuschtewskajas Mutter das literarische Kochbuch „Die Poesie der russischen Küche“ ihrer Tochter kommentiert haben. Mit ihrem 2007 erschienenem Band „Sibirienreise – die Lena“ hat Tatjana Kuschtewskaja nun eindeutig über ein Thema geschrieben, von dem sie etwas versteht. „Nur an der Lena wirst du ganz du selbst“, sagen die Jakuten, und Tatjana Kuschtewskajas Reisereportage beweist, dass sie dem Zauber des Flusses erlegen ist.
„Es gibt eine alte Anekdote über Reisebuch-Autoren. Auf die Lena gemünzt, geht sie so: ‚Haben Sie das Buch über die Lena geschrieben?’ ‚Ja.’ ‚Sind Sie mal dort gewesen?’ ‚Selbstverständlich.’ ‚Davor oder danach?’“ Bei Tatjana Kuschtewskaja kann man sicher sein: davor und danach. Und jedes Mal wieder war sie mit offenen Sinnen unterwegs.
Acht Jahre lang hat die Autorin an den Ufern der Lena gelebt, viele Male ist sie auf dem Fluss und an seinen Ufern gereist. Für den Westeuropäer ist die Lena ein Fluss, mit dem er wenig verbindet. Vielleicht ist ihm bekannt, dass er mit seinen 4400 Kilometern Länge zu den längsten Flüssen der Erde gehört. Doch wenig weiß er über Jakutien, das Land, dessen Lebensader die Lena ist, ein drei Millionen Quadratkilometer großer weißer Fleck auf der Landkarte. Um einen ersten Eindruck von der Schönheit, den Merkwürdigkeiten und Gefahren dieses Landes zu bekommen, empfiehlt sich Tatjana Kuschtewskajas empathisches Buch.
Tatjana Kuschtewskaja liebt diesen Fluss, das ist auf jeder Seite zu spüren. Sie schreibt sich ihre Sehnsucht nach diesem Fluss von der Seele, indem sie von den Abenteuern erzählt, die sie selbst dort erlebte oder von denen sie reden hörte. Sie erzählt von den Menschen am Ufer der Lena, den Jakuten, die sich selbst Sacha nennen, den Burjaten, den Kosaken, den Russen. Sie erzählt Anekdoten, Sagen, Legenden und lässt so ein Bild von Vergangenheit und Gegenwart des Landes an der Lena entstehen.
Die Lena entspringt in einem kleinen See etwa 20 Kilometer vom Baikalsee entfernt. Mit der Autorin begibt sich der Leser auf den Weg von Katschug, der ersten größeren Stadt am Oberlauf der Lena, über Ust-Kut, Markowo, Lensk, die Hauptstadt Jakutsk, Schigansk bis zum Lenadelta und der Bucht von Tiksi am Nördlichen Eismeer. Tatjana Kuschtewskaja orientiert sich am Lauf des Flusses, wenn sie „Geschichte und Geschichten entlang dem großen sibirischen Fluss“ beschreibt. Leicht lässt man sich als Leser fesseln von dem Panorama, das Tatjana Kuschtewskaja entwirft.
Von den Jakuten wird der Fluss „Straße der Ahnen“ genannt. Als die russische Zarenregierung im 17. Jahrhundert den ersten Verwaltungsbezirk an der Lena einrichtete, wurde die erste Expedition zur Erkundung des Flusses ausgerüstet. Im Jahr 1639 brachen 47 Schiffe in Tobolsk auf, doch nach einem Jahr waren sie nicht weiter als bis Jenissejsk gekommen. Heutzutage bieten Reiseveranstalter Lena-Kreuzfahrten für ausländische Touristen an, und eine Strecke von dreieinhalbtausend Kilometern kann ohne Abenteuer zurückgelegt werden.
Die Lena ist beileibe keine touristische Hochburg, und die Touristen werden von den Einheimischen eher als sonderbar wahrgenommen. Einen Eindruck davon vermittelt uns Tatjana Kuschtewskaja durch einen Brief eines jungen Jakuten, der einen Sommer lang auf einem der Kreuzfahrtsschiffe arbeitete und seine Wahrnehmungen schildert. Eben in dieser Zusammenstellung der unterschiedlichsten Sichtweisen auf das Leben an und auf der Lena liegt der Reiz und der Wert dieses Bandes und macht ihn damit wertvoller und interessanter als einen konventionellen Reiseführer.
Und dennoch lässt sich dieses Geschichtenbuch durchaus als Reiseführer verwenden. Man erfährt zum Beispiel, dass sich in Jakutsk das weltweit einzige Institut zu Erforschung des Permafrostbodens, das Jakutische Jaroslawski-Museum für Kultur und Geschichte der nördlichen Völker und das Mammutmuseum der Akademie der Wissenschaften der Republik Sacha befinden, die drei Lieblingsmuseen der Autorin. Und, neugierig geworden, möchte man ihr gern folgen in diese Expositionen.
Ob Kanufahrten auf der Lena, Jagdexpeditionen in der Taiga, Hundeschlittenfahrten oder gelebte schamanische Tradition, Tatjana Kuschtewskaja fängt die Vielfalt des Lebens an ihrem geliebten Fluss, der „Heimat ihrer Seele“, ein. Und macht dem Leser Lust, sich selbst der Lena zu nähern. „Die ungewöhnliche Lebenskultur ihrer Anwohner, ihre selten reiche Flora und Fauna – all dies ist dazu angetan, selbst den abgeklärtesten Globetrotter zu begeistern.“
Im Anhang enthält das Buch noch Praktisches und Interessantes für den Leser. Zum einen nützliche Informationen für den Reisenden von Visabeschaffung über Klimaverhältnisse bis hin zu Telefonnummern und Adressen von Hotels und Museen. Zum anderen eine kurz kommentierte Zusammenstellung von Begriffen aus dem jakutischen Schamanismus.
„Einmal fragte ich mich, warum das Beste, was über die Lena geschrieben wurde, … aus der Feder Hergereister stammt. Und kam zu folgendem Schluss: Man muss die Lena als Städter und Ästhet, aus einer südlicheren Region kommend, kennenlernen, muss jahrelang an ihren Ufern leben, dann sich von ihr entfernen, durch die Welt reisen und wieder zu ihr zurückkehren – erst so wird man sie richtig wertschätzen und besingen können.“
Tatjana Kuschtewskaja hat beides erreicht, sie kann die Lena wertschätzen und sie kann sie besingen. Mit diesem Band ist ihr das jedenfalls hervorragend gelungen.
Literaturangaben:
KUSCHTEWSKAJA, TATJANA: Sibirienreise – die Lena. Vom Baikal bis zum Eismeer – Geschichte und Geschichten entlang dem großen sibirischen Fluss. Übersetzt von Ilse Tschörtner. Wostok, Berlin 2007. 190 S., 15 €.
Zuerst veröffentlicht im Februar 2008 bei der Berliner Literaturkritik.
Mehr dazu im Netz:
– Link zur Rezension bei der Berliner Literaturkritik
– Eintrag im Bücherwiki mit Link zur Rezension